Ein kleines abstraktes Beispiel soll verdeutlichen, was dies für unseren Alltag bedeuten wird. Nehmen wir einmal an, eine Person X ist auf der Suche nach einem Nachhilfe-Anbieter für den Sprössling. X ist zudem
- Spracheninteressiert
- Wohnt in Berlin
- Hat ein sehr gutes Einkommen
- Liest am liebsten Onlinemagazin Z
- Und dies üblicherweise am späten Abend gegen 19 Uhr, wenn er/sie von der Arbeit nach Hause kommt
Just an diesem Abend beginnt der Bildungsteil des Lieblingsmagazins mit einem Beitrag darüber, wie man die Kleinen außerschulisch fördert, und worauf man bei der Auswahl eines Nachhilfeinstituts achten sollte. Selbst der Filialleiter eines Anbieters in Berlin wird in dem Beitrag zitiert. Wie daraus hervorgeht handelt es sich nicht gerade um das günstigste Institut, dafür legt es großen Wert auf die Förderung von Fremdsprachen. Genau danach hat X im Netz schon seit längerem gesucht. Alles Zufall?
Der perfekte Wolf im Schafspelz
Derzeit entwickeln sich drei Online-Technologien sehr rasant, welche diesen Zufall kalkulierbar machen. Miteinander kombiniert führen sie zu einem wichtigen Onlinewerbeformat der Zukunft. Die drei Technologien – jeweils sehr vereinfacht dargestellt – sind:
- Robo-Content mit Hilfe von künstlicher Intelligenz: Jetzt schon können Computer in Teilen Texte schreiben, die nicht mehr als das Werk von Maschinen erkennbar sind. Man gibt ein Thema vor, die Zielgruppe, den gewünschten sprachlichen Duktus, drückt auf einen Knopf, und fertig ist die Nachricht oder der Blogbeitrag der Zukunft. Selbst eine Art persönliche Meinung des „Autors“ lässt sich darin simulieren. Die Techniken hierfür gibt es bereits. Deren Masseneinsatz ist absehbar, er hängt rein von genügend großen Rechnerkapazitäten ab. Schon seit Längerem gibt es Softwaretools, die existierende Inhalte oder Textfragmente zu ganz neuen Beiträgen zusammenzusetzen. So lassen sich aus einem Mustertext beliebig viele Klone unterschiedlicher Ausprägung generieren.
- Big Data: Die aktuelle Snowden-Diskussion hat das Thema in die Wohnzimmer der „normalen“ Nutzer katapultiert. Geheimdienste, Behörden, der Staat aber – was gerne vergessen wird – vor allem auch Unternehmen wissen immer mehr über uns. Das lässt eine vollpersonalisierte Berichterstattung zu. Onlineinhalte werden in naher Zukunft auf unseren Familienstand, persönliche Vorlieben, unseren Beruf, Hobbys, unsere Freunde u.v.m. ausgerichtet sein. Die perfektionierte Filter Bubble, wie sie Eli Pariser so treffend in seinem Buch beschreibt (Lesetipp).
- Native Advertising: Hierbei handelt es sich um von Werbekunden beauftragte, gekaufte Beiträge in Onlinemagazinen, Blogs & Co., ähnlich einem Advertorial. Allerdings steht bei Native Advertising noch mehr im Vordergrund, die Anzeige möglichst „natürlich“ aussehen zu lassen. Sprich: Die Werbung soll nicht als solche erkannt werden, dann hat sie ihr Ziel erreicht. Zwar sieht das Gesetz in Deutschland die strikte Trennung von Redaktion und werblichen Inhalten vor, damit die Leser Interessenskonflikte oder eine mögliche Beeinflussung selbst erkennen und beurteilen können. Doch dieses Gebot wird immer häufiger umgangen.
Der Robo-Content ermöglicht billige, auf den jeweiligen Endnutzer ausgerichtete Nachrichten, Big Data sorgt für die Grundlagen der Personalisierung, und Native Advertising macht ein effizientes, da kaum „spürbares“ Anzeigenformat daraus. Online-Werbeagenturen sprechen in einem solchen Fall von „zielgruppengerechten Inhalten“. Schleichwerbung trifft es wohl besser. Der Mensch wird anfangs noch den inhaltlichen Rahmen festlegen, aus dem die Texte zusammengewürfelt werden, irgendwann fällt auch diese Arbeit weg.
Robo-Content oder besser Robo-Werbung, das ist der perfekte Wolf im Schafspelz. Oder besser noch: Ein Trojanisches Pferd. Zeigt man „normalsterblichen“ Internetnutzern bereits existierende Native Advertising-Formate, dann macht sich Überraschung breit: Falls eine (dezente) Kennzeichnung der Werbung vorhanden ist, so wird diese nicht selten schlicht übersehen. Zudem existiert ein reger Grau- und Schwarzmarkt, über den Unternehmen nicht-gekennzeichnete Werbebeiträge und Verlinkungen kaufen, selbst in bekannteren Onlinemedien und Blogs. Den publizierenden Portalen wird dabei sogar vorgeschrieben, wie der Beitrag auszusehen hat, welche Meinung man sich wünscht, oder er wird praktischerweise gleich mitgeliefert – fertig ausformuliert.
Onlinemedien sind bestechlicher als Offlinemedien
Nachfolgend eines der immerhin gekennzeichneten Beispiele für Native Advertising, in diesem Fall ein Beitrag zum „Hotel der Zukunft“ aus der „Huffington Post Deutschland“. Auch so mancher Online-Ableger der traditionellen deutschsprachigen Presse setzt mittlerweile auf das unscheinbare Werbeformat:
Nicht immer merkt bzw. weiß der normalsterbliche, Onlinemarketing-unerfahrene Leser, dass ein Beitrag „gesponsert“ ist und/oder was dies überhaupt bedeutet, von wem der Text stammt und welches Ziel sich dahinter verbirgt. Zudem ist die Verführung groß, die Kennzeichnung immer unauffälliger zu gestalten. Oder diese fällt gleich ganz weg. Wer sich ein wenig auskennt in der Szene, der staunt immer wieder darüber, auf wie vielen Portalen und Blogs Content gekauft und versteckt platziert werden kann. Selbst namhafte Adressen finden sich darunter. Oder man wundert sich, wie viele Unternehmen – vom kleinen Gewerbebetrieb bis zum internationalen Großkonzern – Blogger & Co. kaufen wollen. Ich selbst erhalte beinahe täglich derlei unmoralische Angebote der Art „Berichte positiv über uns, wir bezahlen dich dafür, aber sprich und schreibe nicht darüber“.
Onlinemedien sind weit bestechlicher als Offlinemedien. Das liegt an der enormen Vielfalt von Nachrichtenwebseiten unterschiedlichster Art, zudem mangelt es an internen Kontrollinstanzen (jeder kann heutzutage mit einfachen Mitteln eine Onlinezeitung schreiben). Sehr viele Nachrichtenseiten werden nicht mehr von einer klassischen Redaktion inhaltlich betrieben, sondern von Web-Unternehmern. Das begünstigt auch automatisierte und individualisierte Content-Werbeformen, die es mit der Transparenz für den Leser nicht so genau nehmen. Technisch sind die in diesem Beitrag beschriebenen Ansätze längst machbar. Die Erfahrung des offiziellen sowie des Schatten-Onlinewerbemarkts zeigen: Was machbar ist, das wird auch umgesetzt.
Woher kommen die Daten für individualisierten Robo-Content?
Schon jetzt werden wir täglich mit personalisierter Onlinewerbung konfrontiert. Facebook, Google & Co., sie alle analysieren ganz genau, wo und wie wir uns im Netz bewegen, nach was wir suchen, was wir lesen und „liken“, was unsere Freunde und Bekannte machen, welche Details wir in unseren Profilen preisgeben.. Forschern ist es beispielsweise gelungen, Onlinenutzer mit bestimmten sexuelle Präferenzen aus sozialen Netzwerken herauszufiltern, alleine aufgrund der Struktur ihrer Social Media-Freunde. Genau das macht Big Data, und genau das machen auch Unternehmen. Sie erstellen ein Profil von jedem von uns, um uns mit passender Werbung versorgen zu können. Immer öfter ist diese nicht mehr als solche erkennbar.
„We use big data to understand personalisation and figure out, based on certain patterns, what articles we should recommend to certain users“ – Jorge Urrutia del Pozo, The Huffington Post
Die Daten kommen also unter anderem aus den sozialen Netzwerken, wir geben sie bereitwillig selbst preis. Unternehmen können auf diese Daten zurückgreifen. Andere Werbenetzwerke tauschen die Merkmale der Leser und Nutzer untereinander aus, oder sie verkaufen diese meistbietend. Aus den einzelnen Puzzleteilen entsteht schnell ein umfassendes Bild davon, auf welche Inhalte wir „anspringen“, wie man uns also manipulieren kann. Großen Portalen reichen die Webseitenbewegungen der eigenen Leser aus, um analysieren zu können, wer sich wann für was interessiert.
Der Werbecontent der Zukunft könnte unter anderem nach folgenden Kriterien individualisiert werden:
- Wie viel Zeit hat der Leser gerade (dies lässt sich je nach verwendetem Endgerät oder aus den Geo-Bewegungsdaten des Nutzers berechnen), dementsprechend kompakt wären die Beiträge
- An welchem Ort befindet sich der Leser gerade, für welche Angebote wird er dort besonders empfänglich sein
- Hat er vorab in einem Shop, bei Google, auf einem anderen Portal bereits Interesse an einem bestimmten Produkt oder einem Sachverhalt geäußert
- Welche Arten von Beiträgen „liked“ oder teilt er normalerweise am liebsten, was beinhalten diese, wie sind sie geschrieben
- Was schreibt er selbst in sozialen Netzwerken oder an anderen Online-Orten, lassen sich daraus Konsumwünsche ableiten (Google etwa „liest“ und analysiert schon jetzt die E-Mails seiner Kunden, um passende Anzeigen zuzusteuern)
- Besonders unheimlich: Welche Portal- und Blog-Autoren bevorzugt der Nutzer (Werden einzelne Autoren bereit dazu sein, ihren Namen für die Robo-Texte herzugeben, um authentische Inhalte vorgaukeln zu können? Effizienter wäre dies allemal..)
- Was weiß man über den Familienstand, das Arbeitsverhältnis, Einkommen, Vorlieben sowie das Netzwerk des Lesers, was davon wirkt sich wie auf den zu erstellenden Beitrag aus
u.v.m. Der Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt, wenn man sich ein wenig eingehender mit der Thematik Big Data befasst. Um die Datenlast zu minimieren, so können zu Beginn oder bei geringem Grad der Personalisierung auch einzelne vorgefertigte Textblöcke stehen, die je nach Leserbedürfnis ausgetausch und miteinander kombiniert werden.
Ist das nicht viel zu aufwendig? Wie refinanziert sich die Werbemaschine?
Durch das vollautomatisierte „Schreiben“ werden die Kosten für individualisierte Nachrichten im sehr niedrigen Cent-Bereich liegen. Auch das Sammeln sowie Aggregieren/Interpretieren von Nutzerdaten gelingt immer effizienter und damit günstiger. Portalbetreiber und Blogger werden bestimmte Content-Flächen ihrer Webseiten verkaufen oder vermieten, die dann – ebenfalls vollautomatisch – über Schnittstellen mit zum jeweiligen Leser passenden Inhalten gefüllt werden. Das alles perfekt abgestimmt auf das Layout und die sonstigen Inhalte des Portals. Einige Werbenetzwerke bieten bereits sehr ähnliche Technologien an, diese werden derzeit auf den Masseneinsatz hin optimiert.
Die Webseitenbetreiber und Blogger selbst – die sogenannten Publisher – dürften wohl nach einem Affiliate Marketing-Ansatz vergütet werden, also über Erfolgsprovisionen. Interessiert sich unsere Person X aus dem Eingangsbeispiel ganz konkret für ein Nachhilfeinstitut oder einen Anbietervergleich, indem sie auf einen Link im Beitrag klickt, dann erhält der Webseitenbetreiber hierfür eine Vergütung im einstelligen bis niedrigen zweistelligen Euro-Bereich. Wird über den Link tatsächlich direkt oder indirekt eine Vertrag mit einem Anbieter abgeschlossen (das lässt sich auch lange nach dem ursprünglich erfolgten Klick auf den Affiliate-Link nachvollziehen), so fließen üblicherweise bis zu 100 Euro je Neukunde und mehr.
Noch effizienter: Content-Outsourcing
Da die vermieteten Werbe- bzw. Beitragsflächen für jeden einzelnen Leser mit anderem Content belegbar sind, was jeweils eine neue Verkaufschance bedeutet, lohnt sich diese Vorgehensweise bereits bei kleinen Portalen mit wenigen Besuchern. Ich selbst konnte testen, wie eine erstaunlich hohe Anzahl von Verbrauchern – durch einen initialen, fingierten „Ratgeber“-Blogbeitrag angeregt – Produkte und Dienstleistungen online erwirbt bzw. abschließt. Darunter befanden sich selbst erklärungsbedürftige und komplexe Angebote, etwa Kreditverträge. Gut gemachte, zielgruppengerecht ausgelieferte Affiliate Marketing-Beiträge erreichen schon heute eine Konvertierungsquote von bis zu 30 Prozent und mehr. Das bedeutet: 30 von 100 Lesern kaufen tatsächlich das in einer Nachricht versteckte Produkt.
Ihre Botschaft … gehört für den Leser zum redaktionellen Angebot … und wird dadurch intensiver wahrgenommen.
, mit dieser Aussage wirbt ein bereits existierendes Content-Werbenetzwerk um Unternehmenskunden.
Ein anderes denkbares Modell, wie die Automatisierung der Onlinewerbung voranschreiten wird: Es entstehen RoboContent-Marketing-Dienstleister, welche die komplette Berechnung und Erstellung der individuellen Beiträge übernehmen. Dabei kombinieren sie zugelieferte Daten mit eigenen oder externen Beständen. Diese Dienstleister bauen die notwendige Rechnerkapazität auf und übernehmen den gesamten Fertigungsprozess.
Eine solche Vorgehensweise minimiert zum einen das finanzielle bzw. technische Risiko für die Webseitenbetreiber. Nachrichtenmagazine müssten sich zudem nicht selbst die „Finger schmutzig machen“, da andere mit den Daten ihrer Leser jonglieren. Die fertigen Beiträge werden dann über ein kleines Quellcode-Schnipsel automatisch in die Onlinemagazine eingebunden. Heutige Werbenetzwerke basieren auf den gleichen Prinzipien der outgesourcten Leserverführung. Das sorgt für eine scheinbare Trennung von Redaktion und Geschäftsmodell.
Welche Unternehmen werden Robo-Werbung nutzen?
Zunächst wird sich das RoboContent-Anzeigenformat wohl nur im B2B-Bereich rechnen, bei dem teure Produkte oder Dienstleistungen im Vordergrund stehen. Denn nur dann ist dies für beide Seiten – Werbekunde und Webseitenbetreiber – attraktiv genug. Auf großen Portalen mit entsprechender Reichweite ist aber auch die Bewerbung klassischer Konsumgüter denkbar. Etwa dann, wenn eine möglichst effiziente Markenbildung im Vordergrund steht, die perfekt auf die unterschiedlichen Zielgruppen (bzw. besser Zielpersonen) ausgerichtet ist. Dann wird das Nachrichtenportal nicht nach Erfolg bezahlt, sondern nach Reichweite.
Fazit
Für viele mag das hier entworfene Szenario übertrieben klingen. Die ersten Gehversuche einiger Agenturen und Werbenetzwerke zeigen jedoch, dass der personalisierten, datengetriebenen Onlinenachricht die Zukunft gehört. Die Entscheidung liegt letztendlich bei uns Lesern: Werden wir die Werbe-Filter-Bubble akzeptieren, die von unseren eigenen Daten getrieben wird? Noch spannender scheint mir die Frage: Wird der Großteil der Onlinenutzer überhaupt bemerken, was ihnen die Online-Werbeindustrie täglich vorsetzt?
Über eine Diskussion zu dem hier entworfenen Szenario würde ich mich freuen, die Kommentare sind offen.
Titelbild: © the justified sinner – Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
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